Mit der Jahrhundertwende brach eine neue Ära für die Turnvereine an. Neue Sportarten entwickelten sich, die Turner verloren ihr Monopol auf die Körperertüchtigung und der Turnverein Mülheim am Rhein stellte sich, wie viele andere Vereine auch, der Herausforderung.
Die Turnerschaft entwickelte sich um die Jahrhundertwende zu einem kaisertreuen, nationalen Verband. Diese politische Ausrichtung wurde begleitet von einer betont strengen und geordneten Turnweise. So wie die Turner alle Befehle ihrer Vorturner und Turnführer mitmachten, vollzog die Turnerschaft insgesamt – nach Meinung des Sporthistorikers Michael Krüger – alle Schwenks der Politik des Reichkanzler von Bismarck und des preußischen Kaisers. Das Deutsche Reich war 1871 gegründet worden und hatte sich bis zur Jahrhundertwende gefestigt. Notgedrungen musste sich jetzt auch die Idee nationaler Leibesübungen, wie sie von den Turnern über Jahrzehnte hinweg vertreten wurde, verändern. Die politische Seite des Turnens verlor an Bedeutung. Politik wurde immer mehr zu einer Angelegenheit der Regierung und der politischen Parteien. Die Leibesübungen selbst sowie die Geselligkeit und die Kameradschaft unter den Turnern trat nun verstärkt in den Mittelpunkt.
Dazu fand sich im Turnverein Mülheim am Rhein schon im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts ausgiebig Gelegenheit. Denn das 50-jährige Jubiläum des Vereins bildete einen
„Markstein in der Vereinsgeschichte“ wie der Chronist Lührmann 1910 schrieb. Neben einem großen Fest-Commers am Abend des 28. Juni 1900 in dem mit Fahnen und turnerischen Emblemen geschmückten Kasinosaal fand am 30. Juni ein Festessen mit 100 Teilnehmern und einem anschließenden Festakt statt. Dabei wurde ein vom städtischen Turnlehrer Otto Walther entworfenes und von Clemens Wagener gedichtetes Festspiel dargeboten: „In poetischem Wechselgespräch zwischen der Mülheimia und dem Mülheimer Turnwart zog die Geschichte des Vereins von den ersten schweren Anfängen der Gründungszeit bis zur jetzigen Blüte an dem geistigen Auge der Zuhörer vorüber.“ Die Blüte des Vereins ließ sich auch in Zahlen dokumentieren: das Vereinsvermögen betrug 25.330 Mark zum 1. Juli 1900 und eine Zählung ergab 565 Mitglieder, davon 239 aktive Turner, 306 Turnfreunde und 20 Zöglinge. Somit war der Turnverein Mülheim am Rhein der größte Verein im Sieg-Rhein-Gau.
Rückblickend war die kontinuierliche Aufwärtsentwicklung des Vereins ein Verdienst des 1. Sprechers Ferdinand Nagel, der über 25 Jahre und damit bis heute am längsten den Verein leitete. Um ihm für seinen unermüdlichen Einsatz zu danken, veranstaltete der Mülheimer Turnverein am 25. und 26. Oktober 1900 einen Kommers und ein Festessen zur Feier eines Vierteljahrhunderts im Dienst für den Verein. Ein Geschenk von 2652 Mark, die der Verein bei Freunden und Bekannten gesammelt hatte, überwies Ferdinand Nagel als weiterer Baustein dem Turnhallenbaufonds, seinem liebsten „Kind“.
Der MTV wird "weiblicher"
Die große Bedeutung, die dem Turnen jahrelang für die Wehrertüchtigung beigemessen wurde, war ein wesentlicher Grund, warum dem Turnen der Mädchen wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden war. Erst Hinweise von Medizinern auf die immer häufigere mangelhafte körperliche Verfassung von Mädchen und Frauen führte zu einem Umdenken und der Forderung nach Mädchenturnen im Interesse der Volksgesundheit. Was die militärischen Ordnungsübungen für die Knaben sein sollten, das war der sogenannte „Reigen“ für die Mädchen: Die Erziehung zu Ordnung und Disziplin, aber auch die Vermittlung der Erfahrung, Teil eines Ganzen zu sein, das nur funktionieren kann, wenn jeder sich beherrschen und einfügen kann. Neben den alten „anmutigen“ Reigen traten nach der Jahrhundertwende auch neuere Formen des Mädchenturnens, auch Leistungsturnen an Geräten, Spiele, volkstümliche Übungen und Gesundheitsturnen. Diesen neuen Entwicklungen öffnete sich auch der Turnverein Mülheim am Rhein und gründete am 6. November 1903 eine Damen-Abteilung, die selbstverständlich auch von einer Dame, Frau Nagel, geleitet wurde. Eine spezielle Abteilung für Mädchen folgte 1907.
[Bild: Offen für neue Entwicklungen zeigte sich der Turnverein Mülheim auch bei der Einrichtung einer Damen-Abteilung (Foto ca. 1905) ]
Neue Spiel- und Sportarten bereichern das Vereinsleben
Dies waren aber nicht alle Neuerungen, denen sich die Mülheimer Turner stellen mussten: Andere Spiel- und Sportarten setzten sich überall in Deutschland durch und brachen den Ausschließlichkeitsanspruch des Turnens auf Leibesübungen. So gründete der Turnverein Mülheim am Rhein im Jahr 1904 eine Spielabteilung, die aber zunächst nur aus Turnern bestand. Hier konnten die Turner die damals beliebtesten Spiele wie Faustball, Fußball, Schlagball und Raffball sowie Schleuderball, Grenzball und Barlauf betreiben. Andere Abteilungen folgten: August 1910 organisierten sich die Schwimmer und trainierten im neu eröffneten Genovevabad und 1911 gründeten die Fechter ihre Abteilung neu. Eine weitere für den Verein prägende Neuerung vollzog sich am 20. Nov. 1906 mit der Gründung der Vorturnerschaft. Die Vorturner wurden zu den wichtigsten Männern im Turnverein: Sie bestimmten die Richtung, den Stil des Turnens und die Atmosphäre in der Turnhalle. Turnerische Bildung und Erziehung im Verein wurden durch diese nicht-professionellen Vorturner vermittelt, die ihre Befähigung zum Vorturner zunächst durch eigenes Können und Engagement, dann auch durch eine vereinsübergreifende, schließlich vom Verband getragene Vorturnerausbildung erwarben. So regte der Vorturner Lürmann am 14.Februar 1907 an, „jedesmal in den Sitzungen den vorher durchgeturnten Uebungsstoff zu besprechen, sowie auch nach Möglichkeit den Sitzungen kleinere Vorträge oder Vorlesungen turnerischer Art folgen zu lassen und erklärt sich bereit, in der nächsten Sitzung einen Vortrag über Turngeschichte zu halten.“
In den kommenden Jahren bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges beteiligten sich die Turner aus Mülheim zahlreich an den alle fünf Jahre stattfindenden Deutschen Turnfesten und auch an verschiedenen anderen turnerischen Wettkämpfen. Darüber hinaus, wurden alljährlich die Stiftungsfeste des Vereins organisiert, bei denen die einzelnen Abteilungen – in erster Linie die Turner – meist im Rahmen des Abendprogramms ihr Können zeigten. Einen neuen sportlichen Anreiz schuf 1912 der 1. Sprecher des Vereins, Dr. Heinrich Oster, indem er einen Wanderpreis stiftete, der im Zwölfkampf ausgefochten wurde.
Der 1. Weltkrieg wirft seine Schatten auf den Vereinssport
Genau einen Monat nach dem die Stadt Mülheim am 1. Juli 1914 von Köln eingemeindet worden war, bewegte die Mülheimer Turner ein anderes Ereignis noch mehr: der Ausbruch des 1. Weltkrieges. Denn mit nur wenigen Ausnahmen wurden alle jugendlichen Turner und Mitglieder zum Kriegsdienst herangezogen. Die verbliebenen Vereinsmitglieder gründeten eine Kasse für die Soldaten, der aus allen möglichen Stiftungen und Veranstaltungen Geld zufloss, womit den Soldaten in regelmäßigen Abständen benötigte Dinge ins Feld geschickt wurden. Schreibmaschinengeschriebene Nachrichtenblätter des 2. Vereinssprechers Direktor Heinrich Jülich informierten die Turner von den Ereignissen daheim und die Frauen des Vereins ergänzten die Pakete mit handgestrickten Socken. Die sportlichen Aktivitäten wurden in ständig wechselnde Hallen verlegt, weil die städtische Turnhalle zu militärischen Zwecken beschlagnahmt wurde. Wenn keine Halle oder kein Gerät zur Verfügung stand, wurde auch schon mal ein Baumast als Reckstange benutzt. Die traurige Bilanz bei Kriegsende 1918: Von den Vereinsmitgliedern sind 44 gefallen. Trotz aller Trauer kam das Leben relativ schnell wieder in geordnete Bahnen; der Turnbetrieb wurde wieder voll aufgenommen und die Schwimm- und Leichtathletikabteilung neu gegründet.
[Bild: MTV-Turner, entweder 1901 oder 1903]
Mit dem Wanderstab raus aus Mülheim
Ein Lied auf den Lippen und mit festem Schuhwerk ausgerüstet, gingen die Mülheimer Turner seit dem Gründungsjahr immer wieder auf Wanderschaft. Zu den sogenannten Turnfahrten schrieb der Chronist Lührmann in der Festschrift zum 60jährigen Bestehen des Vereins: „... der Turnmarsch übertrifft, weil er eine stunden-, ja tagelang fortgesetzte rhythmische Dauerübung ist, wohl alle anderen Leibesübungen an wohltätiger Wirkung auf den Körper. ... Dabei führt es uns durch die schönsten Gegenden der Heimat und macht sie uns teuer, indem wir durch liebe Erlebnisse und froh verlebte Stunden mit ihr verknüpft werden.“ Das erste Ziel einer Turnfahrt - wie auch später noch - war Haus Vorst. Doch neben dieser traditionellen Wanderung unternahm der Verein auch Ausflüge in die Eifel, den Westerwald und das Bergische Land. Der Ablauf einer Turnfahrt wird aus dem Turnrats- Protokoll vom 25.Mai 1853 deutlich: „Morgens früh zu Fuß nach Altenberg und Engelrath zu gehen, und einige Wagen zum Abholen Abends zu bestellen. ...wird demzufolge mit dem herbeigerufenen Kutscher Alex die Übereinkunft getroffen, daß derselbe uns 3 Wagen zur Verfügung stellen solle, wovon der Erste um 5 Uhr und die beiden anderen gegen 9 Uhr in Engelrath eintreffen müssen. Alex verlangt für jeden Wagen Thlr. 3.- einschließlich Barriere und Verpflegungskosten, die demselben bewilligt werden.“
Die in den Anfangsjahren fast „nach Lust und Laune“ und besonders aufgrund der guten Wetterlage spontan arrangierten Wanderungen wurden nach der Hauptversammlung des Mülheimer Vereins vom 21. März 1903 fortan planmäßig in einem neuen Turnfahrten-Ausschuss organisiert. Nichts wurde mehr dem Zufall überlassen: „Durch Vortouren, die die jeweiligen Führer machen, werden diese in den Stand gesetzt, die besten Wegestrecken und – schönsten Badegelegenheiten auszukundschaften. So können sich die Teilnehmer ganz dem ungestörten Genusse des Wanderns hingeben.“ So steigerte sich das Angebot von einer Herbst- und Frühjahrs-Turnfahrt vor der Jahrhundertwende bis auf beispielsweise 12 Wanderungen im Jahr 1909 an denen insgesamt 367 Turner teilnahmen.
Das geschah sonst noch in Köln:
1900 Heinzelmännchen-Brunnen enthüllt
1902 Richard Strauss gibt Konzert im Gürzenich
1905 Erstmals finden Volkshochschulkurse statt
1907 Frauen werden zum Studium zugelassen
1909 Graf Zeppelin landet mit seinem Luftschiff in Bickendorf
1913 Mülheim wird eingemeindet
1914 Ausbruch des 1. Weltkrieges
1917 Konrad Adenauer wird Oberbürgermeister
1918 Kriegsende und Köln von britischen Truppen besetzt
Quelle: Jubiläumsmagazin des MTV Spiegels, "150 Jahre MTV Köln 1850", Juni 2000
Text: Claudia Schrader-Wingens